Leichte Sprache – Nutzertests als Qualitätskriterium?

Die Regeln und Empfehlungen für die Übersetzung von Texten in Leichte Sprache sind öffentlich zugänglich und relativ leicht zu erlernen, was sie für jedermann überprüfbar macht. Im Gegensatz zur Deutschen Gebärdensprache ist Leichte Sprache jedoch keine anerkannte Sprache und es gibt zahlreiche Regelwerke und Empfehlungen, darunter auch die Empfehlung von Nutzertests. Allerdings macht die BITV (Barrierefreie Informationstechnologie Verordnung) selbst keine Vorgaben zu Nutzertests. Nutzertests sind also zunächst mal nicht gesetzlich vorgeschrieben und auch kein bindender Bestandteil von bestehenden Regelwerken.

Woher kommt die Forderung nach Nutzertests?

Menschen mit Lernschwierigkeiten haben häufig besondere Schwierigkeiten beim Lesen und Verstehen von komplexen Texten. Deshalb müssen Texte in Leichter Sprache leicht zu lesen und zu verstehen sein. Die Forderung nach Nutzertests basiert auf dem Anspruch, Leichte Sprache so zu gestalten, dass sie tatsächlich den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Zielgruppe entspricht. Es geht darum, die Perspektive der Nutzer einzunehmen und ihre Erfahrungen und Anliegen in den Gestaltungsprozess einzubringen, um eine inklusive und zugängliche Kommunikation zu fördern. Menschen mit Lernschwierigkeiten sollen direkt in den Entstehungsprozess von Texten in Leichter Sprache einbezogen werden. Durch ihre Rückmeldungen und ihr Feedback soll sichergestellt werden, dass die Texte für die Zielgruppe tatsächlich verständlich sind. Aus diesem Grund knüpfen zum Beispiel Inclusion Europe und das deutsche Netzwerk Leichte Sprache obligatorische Nutzertests an die Verwendung des bekannten Leichte-Sprache Siegels.

Die Bedeutung von Nutzertests für die Sprachregeln

Nutzertests und die Einbeziehung von Selbstvertretungen unter dem Motto „Nichts über uns ohne uns“ hatten und haben einen signifikanten Einfluss auf die Entwicklung der linguistischen Sprachregeln für Leichte Sprache, wie sie vom Duden-Verlag und der Forschungsstelle Leichte Sprache der Universität Hildesheim herausgegeben werden. Gleiches gilt auch für den Entwurf der DIN-Norm Leichte Sprache. Durch Nutzertests und das direkte Feedback der Selbstvertretungen konnten die sprachlichen Bedürfnisse und Herausforderungen der Zielgruppe besser erfasst werden. Dadurch konnten die Sprachregeln gezielt an den tatsächlichen Anforderungen der Nutzer ausgerichtet werden und unmittelbar in die Entwicklung und Weiterentwicklung der Regeln für Leichte Sprache einfließen. Trotz der bereits bestehenden Sprachregeln und Erfahrung im Bereich Leichte Sprache sind Nutzertests auch heute noch von großer Bedeutung. Denn Sprache entwickelt sich ständig weiter, sei es durch neue Wortschöpfungen, neue Lehnworte oder eine geschlechterneutrale Sprache. Durch Nutzertests können zukünftige Bedürfnisse und Anforderungen erkannt und gegebenenfalls in bestehende Sprachregeln eingearbeitet werden.

Braucht es Nutzertests für jede einzelne Übersetzung?

Die Perspektive der Zielgruppen ist bzw. war für die Entwicklung von verbindlichen Regelwerken und Prozessen von fundamentaler Bedeutung. Der heutige Entwicklungsstand von Leichter Sprache, insbesondere der bereits bestehenden Regelwerke, wäre ohne den Input der Zielgruppe gar nicht denkbar. Vertreter der Zielgruppe sind Experten in eigener Sache und helfen dabei zu verstehen, welche Bestandteile der normalen Alltagssprache für sie zu Verständnisproblemen führen. Daraus sind vor vielen Jahren die ersten Regeln für Leichte Sprache beim Netzwerk People First (heute Netzwerk Leichte Sprache) entstanden. Und daraus sind auch die wissenschaftlich fundierten Weiterentwicklungen der Regeln im Duden-Verlag sowie der aktuell vorliegende Entwurf der DIN-Norm für Leichte Sprache hervorgegangen. Deshalb haben wir bereits relativ verbindliche Regelwerke, die auch den Rahmen der KI von Leichte-Sprache.io bilden. Und wenn diese Regelwerke gut sind, muss es eigentlich auch möglich sein, auf dieser Basis Texte in Leichter Sprache zu produzieren, die keinerlei Nutzertests mehr bedürfen. Ansonsten müsste man die Regelwerke verbessern. Aus unserer Sicht ist es einfach unrealistisch, dass jede Übersetzung in Leichter Sprache zunächst von Nutzerinnen und Nutzern geprüft werden soll. Und die Erfahrung der letzten 20 Jahre im Bereich der digitalen Barrierefreiheit hat gezeigt, dass die Forderung nach Nutzertests noch kein Beleg für ihre Notwendigkeit darstellt. Denn eine ähnliche Argumentation gab es bereits vor vielen Jahren im Bereich „Barrierefreies Internet“. Anfangs wurde auch hier gesagt, dass Barrierefreiheit im Internet ohne Nutzertests nicht möglich sei. Doch zahlreiche Best-Practice-Projekte haben in den letzten Jahren das Gegenteil bewiesen.

Nutzertests haben auch Nachteile

Die Bedeutung von Nutzertests für den heutigen Entwicklungsstand der Leichten Sprache ist unbestritten. Aber um der Zielgruppe wirklich zu dienen, brauchen wir viel mehr Texte in Leichter Sprache. Am besten tagesaktuell. Das geht nicht mit Nutzertests. Damit man aber das Leichte-Sprache Siegel von Inclusion Europe verwenden darf, muss „Mindestens eine Person mit geistiger Behinderung (…) das Dokument gelesen haben, um zu prüfen, ob es leicht zu lesen und zu verstehen ist.“ Beim Netzwerk Leichte Sprache werden unter dem Motto „Leichte Sprache gibt es nur mit uns!“ Nutzertests mit Menschen mit Lernschwierigkeiten als Qualitätskriterium genannt. Die Einbindung von Nutzerinnen und Nutzern bei der Entwicklung von Regelwerken für Leichte Sprache macht absolut Sinn. Aber die Forderung der Einbindung von Menschen mit Behinderung bei jeder einzelnen Übersetzung ist aus unserer Sicht und auch erfahrungsgemäß für die Zielgruppe letztendlich kontraproduktiv. Das hat mehrere Gründe.

Nutzertests mit wenigen Probanden reflektieren nur eine begrenzte Perspektive. Niemand würde auf die Idee kommen, ein Usability-Panel mit nur ein bis drei Nutzern durchführen – weil die Ergebnisse nicht repräsentativ wären. Für Nutzertests mit Menschen mit Lernschwierigkeiten wird das hingegen weitgehend als angemessen betrachtet. Das erscheint uns nicht richtig zu sein. Dazu sind auch Menschen mit Lernschwierigkeiten zu verschieden. Leider ist eine Erhöhung der Probandenzahl keine Option, denn diese stehen in der Regel gar nicht zur Verfügung und bilden in der aktuellen Form in vielen Fällen schon jetzt einen Flaschenhals bei der Veröffentlichung von Texten in Leichter Sprache. Tagesaktuelle Informationen sind auf diese Weise nicht vorstellbar. Prüfgruppen sind einfach oft ein Engpass, besonders im Bereich der Leichten Sprache.

Neben dem Zeitfaktor spielen aber auch die zusätzlichen Kosten eine wichtige Rolle. Denn die Prüfung von Texten in Leichter Sprache kostet Geld. Laut einer nicht repräsentativen Umfrage von Inga Schiffler (selbst Übersetzerin für Leichte Sprache) liegen die Preise für die Übersetzung einer Normseite zwischen 70 und 150 Euro. Für die Prüfung durch eine Prüfgruppe kommen je nach Dienstleister ähnliche Stundensätze bzw. Aufwände pro Normseite hinzu. So entstehen für Übersetzungen in Leichte Sprache plus Prüfung im Schnitt Kosten von 150 bis 300 Euro pro Normseite, je nachdem mit welchem Dienstleister man zusammenarbeitet. Gerade für kurze oder tagesaktuelle Texte möchten wir eine Lösung bieten, die nicht bereits an den Kosten oder am Zeitdruck scheitert.

Fazit

Nutzertests sind superwichtig, wenn es um die Entwicklung der Regeln für Leichte Sprache geht. Sie haben geholfen, die bereits bestehenden Regeln besser auf die Bedürfnisse der Zielgruppe abzustimmen. Aber es ist unrealistisch und nicht besonders hilfreich, sie für jede einzelne Übersetzung einzufordern. Erstens, weil die Tests mit nur wenigen Probanden gemacht werden und deshalb nicht alle Sichtweisen berücksichtigen. Zweitens, weil sie viel Zeit und Geld kosten. Wenn wir gute Regelwerke haben, sollten wir auch in der Lage sein, Texte zu erstellen, die ohne Nutzertests für die Zielgruppe verständlich sind. Das spart Zeit, Geld und macht zukünftig mehr tagesaktuelle Infos in Leichter Sprache möglich. Dafür müssen wir die Stärken von KI und die Fähigkeiten der Menschen verbinden. Dann kann KI von großem Nutzen sein. Das ist unser Ziel. Aber natürlich steht es auch jedem frei, auch die mithilfe von KI produzierten Texte von Menschen mit Lernbehinderung prüfen zu lassen.